(Maître de conférences an der Universität Paris 1 Panthéon-Sorbonne)
Übersetzerin: Anne Holtmann-Mares
So wie jede andere geisteswissenschaftliche Betätigung verwendet auch die (mittelalterliche) Geschichtswissenschaft offen oder implizit Begriffe (im Französischen concepts, Anm. d. Übers.) – deren einfache und eindeutige Definition jedoch durch ihre Bedeutungsvielfalt innerhalb der verschiedenen Fächer (Linguistik, Philosophie usw.) ebenso erschwert wird wie durch die unreflektierte Verwendung dieses Wortes, das ohne Unterschied im Zusammenhang mit notion,catégorie, métaphore oder terme verwendet wird. Ein guter Ausgangspunkt für unsere Analyse ist die Etymologie: „Begriff“ (Frz. concept) leitet sich vom lateinischen conceptus („was begriffen wurde“), Partizip Perfekt des Verbs concipere, her und geht auf das zusammengesetzte Etymon *cum+capere („zusammen nehmen“ – die Idee des „Greifens“ spiegelt sich in den deutschen Ausdrücken „Begriff“ und „begreifen“ wider) zurück. Das Wort verweist demnach auf die Tätigkeit des Sammelns, des Zusammenfügens von zunächst disparaten Elementen, um ein neues Ganzes zu formen (konzipieren), indem die einzelnen Elemente von ihrer ursprünglichen Struktur getrennt werden müssen. Ein solches Verfahren entspricht genau dem, was Marcel Mauss und Paul Fauconnet in der Sozialwissenschaft mit „eine ernsthafte Untersuchung“ meinen, die oftmals „dazu führt, das zu vereinigen, was das Gewöhnliche trennt, und das zu unterscheiden, was das Gewöhnliche vermischt“ (Art. „Soziologie“ in: La grande encyclopédie, Bd. 30, Paris, 1901, S. 173). Demnach lässt sich ein Begriff als Instrument zum Zerlegen und Zusammensetzen eines Untersuchungsobjektes betrachten. Es handelt sich nicht um das Objekt selbst (oder einen Teil davon), es wird künstlich, abstrakt produziert – was gleichzeitig bedeutet, dass es theoretisch auf andere Objekte als jene, für die es erstellt wurde, übertragbar ist.
Unter Begriffsbildung (Frz. conceptualisation) versteht man also ein Untersuchungsverfahren, das faktisch analog zur Betrachtung eines Elements unter dem Mikroskop oder im Reagenzglas ist, d. h. eine Methode zur Abtrennung vom Eigentlichen, Wirklichen, und zur Definition eines Feldes der Sichtbarkeit, in Bezug worauf – und zwar unbedingt in dieser Bezugnahme – die Beobachtungen Sinn erhalten. Ebenso wie die Veränderung der Brennweite etwas anderes zum Vorschein kommen lässt als das, was bis dahin wahrgenommen wurde, so modifiziert eine Veränderung des Begriffs das Ergebnis der Beobachtungen des Historikers grundlegend. Dies versteht sich um so mehr, wenn man berücksichtigt, dass die Begriffsbildung, die aus der zusammengenommenen Betrachtung der a priori getrennten Elemente resultiert, ein Verfahren ist, um nach den Beziehungen zwischen diesen Elementen, nicht aber nach der Summe der Einzelteile zu fragen – kurz gesagt, nach der Art ihrer Verbindung und nicht nach der Summe der jeweiligen Eigenschaften. Die Historiker müssten daher besonders aufmerksam bei der Ausarbeitung der Begriffe sein, derer sie sich bedienen – doch man muss feststellen, dass in dieser Hinsicht häufig Gedankenlosigkeit vorherrscht und dass ein naiver Gebrauch der Begriffe die Fähigkeit behindert, neue Resultate zu erzielen.
Die Beziehungen zwischen „Begriffen“ und „Realität“ stellten zudem ein zentrales Streitobjekt in den intellektuellen und wissenschaftlichen Auseinandersetzungen dar, welche die fortschreitende Definition der Felder, Methoden und der Epistemologie der Sozialwissenschaften vom 19. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts begleiteten. Ganz besonders in Deutschland, das damals das hauptsächliche Terrain der theoretischen Ausarbeitungen und Debatten bildete, entwickelte sich ein Gegensatz zwischen den Befürwortern einer essentialistischen und mimetischen Auffassung von Begriffen, die als schlichter Ausdruck der Realität erschienen, dem Rechnung zu tragen sei, auf der einen Seite, sowie auf der anderen Seite den Verfechtern einer instrumentellen und relationalistischen Vorstellung von Begriffen (die also soziale Verhältnisse und nicht Wesenheiten zum Ausdruck brachten) und unter denen sich die großen Namen der deutschen Sozialwissenschaften finden (Weber, Simmel, Mannheim, Cassirer u. a.). Doch letztlich – und auf brutale Weise – trug die erstgenannte Richtung, die nach Wiederbelebung einer „authentischen“ Realität strebte, unter dem Nazi-Regime den Sieg davon: Der Mediävist Otto Brunner spielte damals eine entscheidende Rolle im Kampf gegen die Anwendung moderner Begriffe auf die Vergangenheit und verlangte infolgedessen einzig den Rückgriff auf zeitgenössische Begriffe. Daraus folgte die Untersuchung früherer Begriffssysteme; dies stellte einen der Ursprünge der Begriffsgeschichte (l’histoire des concepts) dar, die in Deutschland seit den 1970er Jahren entwickelt wurde (unter der Leitung von Reinhart Koselleck, Werner Conze und – Otto Brunner). Wenn der positive Effekt von all diesem darin liegt, zu unterstreichen, wie sehr die Erforschung zeitgenössischer Begriffe und ihrer Gebrauchswandlungen für einen sozialgeschichtlichen Ansatz unverzichtbar sind, so hat das Vergessen der Entstehung der deutschen Begriffsgeschichte auf der anderen Seite aus dem üblichen Horizont der Historiker die erkenntnistheoretische Reflektion über den Sinn und die Folgen der „wilden“ (nicht konstruierten, sondern einfach übertragenen) Konzeptualisierung verschwinden lassen, der sie sich überlassen, ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen, auch nicht über ihren relationalen und nicht-substantiellen Charakter, der bei diesen Begriffen berücksichtigt werden müsste.
Was Frankreich betrifft, hat die gänzlich anders gelagerte Ausbildung des intellektuellen und wissenschaftlichen Feldes um 1900 ganz andere Bruchlinien hervorgebracht: zwischen einer Geschichtswissenschaft, die vorgab, rein empirisch vorzugehen, und sich auf die in den Texten beobachtbare Einzigartigkeit konzentrierte (ohne über andere Bedingungen der Beobachtbarkeit als der Frage nach der Authentizität des Textes nachzudenken), und die daher vorgab, gar keinen Begriff anzuwenden, – und einer Soziologie, die sich demgegenüber mit der Theorie der Gesamtheit des Sozialen und insbesondere mit dem Nachdenken über die Bedingungen der Möglichkeit der Beobachtung befasste.
Sicherlich hat die Wiederaufnahme disziplinärer Verbindungen zwischen Geschichtswissenschaft und Soziologie (in der Zwischenkriegszeit, besonders bei Marc Bloch) und zwischen Geschichtswissenschaft und Anthropologie (im Gefolge der Dekolonisation, mit Jacques Le Goff als Galionsfigur) den empiristischen Objektivismus der besagten Denkrichtung erschüttert, aber sie hat erst spät zur Wiederaufnahme der Bedingungen des Begriffsgebrauchs in die Fragestellungen der Historiker geführt: zum einen, weil man zunächst versuchte, den Empirismus durch einen anderen, strukturalistischen und mehr oder weniger aus dem Marxismus genährten Objektivismus zu ersetzen (die Braudelsche „Schule der Annales“), zum anderen, weil die hauptsächlichen philosophierenden Angriffe (aus einer nietzscheanischen Richtung) vor allem dazu führten, Argwohn gegenüber Begriffen zu nähren, die präsentiert wurden als ein Problem für die Geschichte, als ein Hindernis, das sich zwischen dem Historiker und seinen Forschungsgegenstand aufbaue, als die Ursache des Relativismus seiner Ergebnisse und als eine Tatsache des Schreibens von Geschichte statt des Forschungsprotokolls. Es dauerte bis in den 1990er Jahre, bis es (auf internationaler und nicht nur auf deutsch-französischer Ebene) Anzeichen gab, dass die Historiker die Notwendigkeit erkannten, die wissenschaftlichen Grundlagen historischer Erkenntnis neu zu definieren und demnach ihren Gebrauch von Begriffen zu reflektieren, zu einer Zeit, als das objektivistische Paradigma durch die politische Krise des Marxismus und, auf akademischer Ebene, durch die Verfechter des linguistic turn schwer angeschlagen war. Diese notwendige Neudefinition – auch gegenüber der Auffassung vom rein fiktionalen und Schrift-Charakter der Geschichte – erforderte es unter anderem, das Problem der Beziehung zwischen den Wörtern und der Wirklichkeit direkt anzugehen.
Die unverzichtbare „Begriffsgeschichte“ (Frz. sémantique historique) reichte also nicht aus, zumal sie nicht dem Problem Rechnung trägt, das sich daraus ergibt, dass zeitgenössische Begriffe (zum Beispiel aus mittelalterlichen Dokumenten) – häufig implizit – in Begrifflichkeiten des Historikers verwandelt und als solche auf eine Gesellschaft übertragen werden, in der „dieselben“ Wörter existierten (eventuell auf Lateinisch), aber mit einer anderen Bedeutung: Dies ist zum Beispiel der Fall bei noblesse (Adel/nobilitas) oder lignage (Geschlecht) wie auch bei seigneurie (Herrschaft/dominium) oder Église (Kirche/ecclesia). Gegenüber diesem Problem herrschen heute zwei Grundhaltungen vor: Sei es, dass Begriffe eingeführt und definiert werden, die in der erforschten Gesellschaft nicht existierten (zum Beispiel aristocratie oder topolignée in den beiden ersten oben genannten Fällen), sei es, dass Begriffe vorgezogen werden, die der untersuchten Gesellschaft entstammen (so dominium oder ecclesia in den beiden anderen Fällen) – wobei der Gefahr, als Anhänger einer Brunnerschen Mimetik zu gelten, entgegengewirkt wird durch das Beharren auf dem nicht-substantiellen, sondern konstruierten und nur relationalen Charakter der Referenten dieser Begriffe (soziale Beziehungen).
Aber eine auf die historischen Begriffe fokussierte Geschichtsschreibung erlaubte es auch nicht, dem Problem der Verwendung von Begriffen, die in unserer heutigen Gesellschaft geläufig sind (Gehalt, Preis, Individuum usw.), für Verhältnisse der mittelalterlichen Gesellschaft (wo diese Wörter ebenfalls existierten, aber mit anderen Bedeutungen) gerecht zu werden. Der größte Nachteil dabei sind die Konnotationen, die wir mit diesen Begriffen verbinden (was schon beginnt mit dem substanzhaften und objektiven Charakter, den wir ihren Bezugsobjekten in unserer Gesellschaft zusprechen) und die wir implizit mit dem jeweiligen Begriff in die Vergangenheit übertragen. Dagegen stellt sich die Frage in ganz anderer Art für wissenschaftliche Begriffe, die ad hoc geschaffen werden, um eine bestimmte Gesellschaft zu untersuchen (z. B. espace public/Öffentlichkeit für die Gesellschaft der Aufklärung, don/contre-don/Gabe-Gegengabe für die von Anthropologen untersuchten Gesellschaften), und deren Anpassung (aber niemals direkte Übertragung) sich als ergiebig für die Untersuchung vernachlässigter Dimensionen der mittelalterlichen Gesellschaft erweisen kann.
Die konzeptionelle Qualität eines Begriffs eignet nie dem Ursprung des Wortes selbst an (sei es zeitgenössisch oder gegenwärtig), sondern seiner sichtbaren Umwandlung in einen konstruierten Begriff – dies macht eine einfache Übernahme eines zeitgenössischen oder gegenwärtigen Wortes so heikel, wenn die konzeptuelle Natur des Wortes nicht erkennbar ist, also seine Diskrepanz in Bezug auf unsere offensichtlichen Verwendungen. In jedem Fall ist es also wesentlich, sich 1. der Bedingungen der Begriffsgenese und 2. des relationalen (und nicht substantiellen) Charakters des Begriffs bewusst zu bleiben.
Die Verwendung von Begriffen
Zur Begriffsproblematik für den Historiker (Mediävisten):
BLOCH, Marc, Apologie pour l’histoire, ou Métier d’historien, hg. von É. Bloch, 2. Aufl., Paris 1997.
GUERREAU, Alain, L’avenir d’un passé incertain. Quelle histoire du Moyen Âge au XXIe siècle?, Paris 2001.
L’histoire sociale des concepts. Signifier, classer, représenter (XVIIe-XXe siècle), hg. von Bernard Lacroix und Xavier Landrin, Paris [in Vorbereitung].
Zum Problem der Übertragbarkeit bestimmter Begriffe auf die mittelalterliche Gesellschaft:
L’individu au Moyen Âge. Individuation et individualisation avant la modernité, hg. von Dominique Iogna-Prat und Brigitte Bedos-Rezak, Paris 2005.
Don et sciences sociales. Théories et pratiques croisées, hg. von Eliana Magnani, Dijon 2007.
L’espace public au Moyen Âge. Débats autour de Jürgen Habermas, hg. von Patrick Boucheron und Nicolas Offenstadt, Paris 2011.