(Maître de conférences à l’université de Versailles/Saint-Quentin-en-Yvelines)
Die Rezeption des Werks Norbert Elias’ (1897-1990) durch die Historiker sowie allgemein durch die Wissenschaftler anderer Gesellschaftswissenschaften kam zu einem späten Zeitpunkt und war unvollständig. Spät, weil seine Arbeit in Frankreich bis zu Beginn der 1970er Jahre verkannt war; unvollständig, weil die daran anschließenden Debatten bei Historikern und Soziologen sich hauptsächlich auf seine zwei bekanntesten Konzepte konzentriert haben, nämlich den „Prozess der Zivilisation“ und die „höfische Gesellschaft“, die auch titelgebend für zwei Publikationen waren. Einerseits „Über den Prozess der Zivilisation“, ein Werk, das 1939 in zwei Bänden erschien und 1969 ins Französische übersetzt wurde (Band 1 „Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes“ und Band 2 „Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation“) und andererseits „Die höfische Gesellschaft“, seine lange Zeit unveröffentlichte Habilitationsschrift, die 1969 erschien, und bereits 1974 ins Französische übersetzt wurde, all dies zeugt von neuem Interesse, das seiner Arbeit zuteil wurde. Die Historische Soziologie, die in diesen Büchern am Werk ist, geschieht hauptsächlich in der Zeit zwischen dem 15. und dem 18. Jahrhundert, , sodass zuerst die Frühneuzeithistoriker die Beiträge Elias’ in ihren Arbeiten reflektierten, indem sie sich kritisch mit ihnen auseinandersetzten. In der Mediävistik werden seit den 1980er Jahren immer wieder einzelne Thesen in die Mentalitäts- und Kulturgeschichtsschreibung übernommen, so zum Beispiel in der Erforschung der Entstehung gesellschaftlicher Normen und der Gewaltkontrolle sowie in der Entwicklung von Forschungsprogrammen. Gleiches gilt für Deutschland, insbesondere mit dem mehrbändigen Werk zur „Residenzforschung“, das sich mit der höfischen Gesellschaft beschäftigt. Jedoch bleiben die tatsächlichen Verweise auf Elias in der Mediävistik sehr spärlich, im Gegensatz zu den Debatten über die Frühe Neuzeit oder mehr noch über ein 20. Jahrhundert, das am Konzept des „Prozess der Zivilisation“ neu gemessen wird sowie an den Schwierigkeiten, die daraus entstehen, Phänomene wie Nazismus oder die Interdependenzen von Körper und Gesellschaft zu analysieren (kontrovers diskutiert durch den Anthropologen Hans Peter Duerr).
Der Hauptgrund dafür ist, dass sich Elias’ Konzepte nur bedingt auf das Mittelalter anwenden lassen. Denn sie sind für den spezifischen historischen und sozialen Kontext des Ancien Régimes entwickelt, indem sie auf eine sehr teilspezifische Dokumentation wie die Handbücher der Umgangsformen oder die Schriften der Hofschreiber zurückgreifen. Deshalb erscheint es unangemessen, Begriffe wie „höfische Gesellschaft“ und „Prozess der Zivilisation“ in gesellschaftlichen Kontexten zu verwenden, in denen sich die institutionellen Formen, auf die sich Elias bezogen hat, noch gar nicht existierten. Man könnte jedoch noch weiter gehen und feststellen bis zu welchem Punkt das Mittelalter eine erneute Lesart dessen ermöglicht, das bei Elias unberücksichtigt geblieben ist, wie bei Foucault oder auch bei anderen Autoren, die sich mit der Analyse der Eigenarten westlicher Entwicklung befassen und dabei die Spezifika der Gesellschaften auslassen, die sich zwischen dem karolingischen Zeitalter und dem 14. Jahrhundert gebildet haben. Diese in Betracht zu ziehen ermöglicht es beispielsweise, zu zeigen, dass die vertikale Zirkulation – wie sie von Elias postuliert wird – der sozialen Normen des Hofes hin zum Rest der Gesellschaft nichts Selbsttätiges ist und dass das Schema sich umkehren kann, dass der Hof zudem das Ergebnis eines komplexen historischen Prozesses ist und darüber hinaus dass die Kirche in diesen Prozessen häufig aktiver teilnimmt als oft angenommen. Das heißt jedoch nicht, dass die Mediävisten nichts mit diesen Konzepten anfangen können, ausgenommen um eine kritische Genealogie des Hofes und der Zivilisation in Europa in der modernen Zeit zu konstruieren. Dafür muss man jedoch den Blickwinkel auf diese zwei Konzepte verändern und ihr wesentliches, vereinendes Glied ins Zentrum der Überlegungen stellen. Tatsächlich liegt die Stärke von Elias’ Modell darin, die Erzeugung und Verbreitung sozialer Normen im Westen mit dem Aufkommen sogenannter Staatsstrukturen zu verknüpfen. Die Geschichte des Individuums – und die der Institutionen, die es prägen – sind in einer Bewegung vereint, die man als Geschichte der „Unterwerfung“ (frz. assujettissement) bezeichnen kann (auf der einen Seite als Geschichte des „Subjekts“ und aber auch als Geschichte der übergeordneten Instanz, die man „Staat“ nennt und welche das Subjekt konstruiert, weil sie es braucht um selbst wiederum „unterwerfend“ zu werden). Die Wurzeln dieser Geschichte liegen im Mittelalter und müssen an der Schnittstelle zwischen Reflexion über die Genese des modernen Staats und der Veränderung im Status des Individuums sowie der Organisationsformen gemeinschaftlichen Lebens, insbesondere in Bezug auf die Kirche, noch erforscht werden.
Andererseits muss man sich in Erinnerung rufen, dass diese Ansätze nur einen Teil des geistigen Potentials von Elias’ Werk verwerten. Im Folgenden werden kurz einige andere Ansätze dargestellt. Man kann zuerst die relationale, konstruktivistische und interaktionistische Dimension der Soziologie Elias’ hervorheben. Individuen sind weder unabhängigen Monaden noch sind sie sozialen Strukturen blind unterworfen: Sie handeln in „Konfigurationen“, innerhalb derer unterschiedliche und differenzierte Strategien möglich sind, diese Handlungen erschaffen wiederum das Soziale und verändern die Ausgangskonfiguration. Diese komplexe Dialektik des Individuums und der Gruppe ist ein Herzstück von Elias’ Soziologie. Durch sie kann die Frage der Biographie mittels seines Mozart gewidmeten Werks neu gestellt werden, indem der Fokus auf die Art und Weise gelegt wird, wie ein Individuum Konflikte und soziale Normen während einer bestimmten Epoche verinnerlichen und verkörpern kann. Somit bietet sich die Möglichkeit, die Arten des Kunstschaffens, die durch die westliche Tradition kanonisiert sind, zu analysieren und ganz allgemein gesprochen alle individuellen Laufbahnen, indem man sie in einen sozialen Raum zurückversetzt, zu untersuchen. Mit Elias kann man auch eine sozialwissenschaftlich orientierte Perspektive auf die Geschichte der Emotionen, die sich oft von einem kognitivistischen Ansatz verschreibt – ja sogar ahistorisch ist –, einnehmen, indem sie die Tatsache hervorhebt, dass die psychische Ökonomie, selbst unter einem freudianischen Blickwinkel, das Ergebnis eines sozialen Prozesses ist: Dies ist ein Teil seiner Studien über den Sport, die die Frage nach der beherrschten Gewalt stellen und die Analyse hin zur Ebene der individuellen Selbstbeherrschung ausbauen, sich aber auch mit dem Gebrauch der Sportriten als Ausdruck der Handhabung, ja sogar der Sublimierung, der potentiellen Gewalt beschäftigt – diesbezüglich scheinen die mittelalterlichen Spiele, insbesondere Turniere oder die Jagd, einen idealen Vergleichspunkt zu bieten. Dieser interaktionistische Ansatz kann schließlich auch die Frage nach Kollektividentitäten und ihrer symbolischen Basis bereichern, ganz nach dem Modell, welches Elias in „Etablierte und Außenseiter“ entwickelt hat und welches sehr gut die Mikroprozesse und die örtlichen Dispositive aufzeigt, die im untersuchten Viertel sehr starke Formen der kollektiven Differenzierung und Identifikation hervorrufen. Diese Mechanismen können auch sehr gut in andere soziale und historische Kontexte übertragen werden.
Außerdem bietet das Werk Elias’ einen theoretischen Blick auf die Arbeit der Sozialwissenschaften, welcher sich auf die soziologische und geschichtswissenschaftliche Untersuchung stützt. „Was ist Soziologie?“, „Engagement und Distanzierung“ oder „Die Gesellschaft der Individuen“ stellen einen guten Rahmen dar, um die Studien von Elias innerhalb der großen sozio-historischen Fragestellungen zu situieren. In diesem Sinne sollten sie auch Gegenstand einer größeren Rezeption seitens der Historiker werden, ebenso wie „Über die Zeit“, das parallel zu den Überlegungen über die Zeitlichkeit und die Historizität eine soziologische Interpretation der Zeitwahrnehmung durch die menschlichen Gesellschaften liefert. Dies ermöglicht die reflektierte Aneignung des Konzepts „Zeit“, das in geschichtswissenschaftlichen Arbeiten häufig nur benutzt aber selten konzeptualisiert wird.
Das Augenmerk auf dem Konzept der Zeitlichkeit erlaubt es, die Überlegungen abzuschließen, indem noch Mal die historische Dimension der Elias’schen Werks unterstrichen wird. Selten haben Soziologie und Geschichte eine so fruchtbare Begegnung gehabt und dort liegt auch zuvorderst das Hauptinteresse seines Werks: Nämlich daran zu erinnern, dass die Dynamiken des Westens eine offene Frage bleiben und dass Soziologie und Geschichte methodologisch sowie auch epistemologisch die gleiche Vorgehensweise teilen, um, unter anderem, diese verständlicher zu machen.
Über den Gebrauch des Werks von Norbert Elias
ANHEIM E., «Norbert Elias et le procès de civilisation», in Historiographies. Concepts et débats, C. Delacroix, F. Dosse, P. Garcia et N. Offenstadt,dir. Paris, Gallimard, 2010, p. 1127-1133.
DUERR H. P., Der Mythos vom Zivilisationsprozeß, Francfort, Suhrkamp, 5 vol., 1988-2002 ; V. Bodin und J. Pincemin Übersetzer, Nudité et Pudeur. Le mythe du processus de civilisation, Paris, MSH, 1998.
FLETCHER J., Violence and Civilization. An Introduction to the Work of Norbert Elias, Cambridge, Polity Press, 1997.
HEINICH N., La Sociologie de Norbert Elias, Paris, La Découverte, 1997
– Residenzforschung, hrsg. Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, 23 vol., Stuttgart, Thorbecke Verlag, 1990-2008.http://resikom.adw-goettingen.gwdg.de/publ.php.
JOLY M., Devenir Norbert Elias. Histoire croisée d’un processus de reconnaissance scientifique: la réception française, Paris, Fayard, 2012.