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... lexicons médiolatins

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  • Über die Verwendung mittellateinischer Lexika in der mittelalterlichen Geschichte

    Benoît GREVIN, 1. Oktober 2012
    Latin |

    Benoît GRÉVIN

    (Forschungsbeauftragter CNRS, Laboratoire de Médiévistique Occidentale de Paris)

    Übersetzer: Harald Sellner


    Hat es für den Mediävisten einen Nutzen Lexika zu verwenden, die von Klerikern des Spätmittelalters für ihren eigenen Gebrauch geschaffen wurden? A priori scheint die Erforschung der großen Lexika, die vom 12. bis 13. Jahrhundert entstanden sind (die Derivationes des Osbern von Gloucester, das Elementarium des Papias, das Catholicon des Johannes Balbus und die Derivationes des Uguccione von Pisa…), die Angelegenheit für Spezialisten der Lexikologie und eventuell auch noch der mittellateinischen Literatur zu sein. Bei einem Historiker, der den Sinn eines lateinischen Begriffes aus einem beliebigen Text des 12. bis 14. Jahrhunderts sucht, scheint es sinnvoller zu sein, auf Wörterbücher des klassischen Lateins (im französischsprachigen Raum der Nouveau Gaffiot, der inzwischen eine große Zahl von Begriffen des christlichen Lateins beinhaltet) und die zahlreichen Wörterbücher für Mittellatein zurückzugreifen, die noch bearbeitet werden oder bereits abgeschlossen sind und ihrem ehrwürdigen Ahnen des 19. Jahrhunderts, dem Glossarium Mediae et infimae latinitatis von Du Cange folgen. Als Unterrichtswerkzeuge, die darauf abzielen sollten, die Kenntnisse ihrer Benutzer zu verbessern, haben die lateinischen Lexika des Spätmittelalters tatsächlich die unerfreuliche Tendenz, in erster Linie Begriffe des klassischen und nachklassischen Lateins aufzunehmen und zu kommentieren und dies auf Kosten der für die mittelalterliche Latinität eigenen Begriffe, die oft Latinisierungen von Wörtern aus den Vulgärsprachen sind (zum Beispiel „saisina“ als Latinisierung des Rechtsbegriffs „saisine“, der im frankophonen Raum des 14. Jahrhunderts sehr häufig verwendet wurde). Dieser Purismus, den es in ähnlicher Weise auch in der mittelalterlichen arabischen Lexikologie gibt, lässt sich durch den Wunsch erklären, die idealen Umrisse einer normierten Hochsprache festzulegen, die man im Gegensatz zu den Vulgärsprachen in der Schule lernen kann.
    Der Mediävist wird also in diesen Lexika Definitionen von Begriffen finden, die er bereits in Wörterbüchern des klassischen Lateins finden kann. Hapax, Vulgarismen und andere Merkwürdigkeiten des Mittellateins, besonders lateinische Formen, die in Registern des pragmatischen Schrifttums verwendet wurden, müssen oftmals mit anderen Werkzeugen untersucht werden. Diese „abweichenden“ Formen stellen aber die größte Schwierigkeit dar, um einen Gutteil der lateinischen Überlieferung des Spätmittelalters zu verstehen.
    Es gibt dennoch mehrere Gründe, die dafür sprechen, diese Lexika oder zumindest einige von ihnen mit Vernunft heranzuziehen, um Texte, die im Latein des ausgehenden Mittelalters (12.-15. Jahrhundert) geschrieben wurden und hierbei besonders die normativen, juristischen und politischen Texte nicht nur linguistisch oder literarisch, sondern auch historisch zu untersuchen. Die Lexika vom Ende des 12. und 13. Jahrhunderts entstanden nämlich als sich die Bedingungen für das Unterrichten und für die Erzeugung von Wissen und Diskursen veränderten, welche die Entstehung des vormodernen Staates begleiteten. Sie lichten in gewisser Weise den Versuch ab, die Sprache zu rationalisieren, was mit dem Aufkommen neuer Arten der Kommunikation korrespondierte: sermo modernus (Predigt); ars dictaminis (Briefkorrespondenz und Latein der Kanzlei), scholastisches Latein der Universitäten. Selbst wenn ihr Inhalt durch das klassische und nachklassische Erbe beeinflusst bleibt (die Etymologien des Isidors von Sevilla), stehen sie in Bezug zu diesen Entwicklungen. Zudem sind einige von ihnen nach gedachten „lexikalischen Wolken“ organisiert, was die Möglichkeiten noch steigert, sie als Instrumente semantischer Analyse zu verwenden.
    Dies ist vor allem der Fall bei dem berühmtesten Lexikon, den Derivationes des Uguccione von Pisa. Dieser „lexikalische Traktat“ (E. Cecchini, Derivationes I, Einleitung, S. XXV) wurde in den letzten Jahrzehnten des 12. Jahrhunderts von einem italienischen Grammatiker verfasst. Dass es sich dabei um den Dekretisten Uguccio/Hugoccio handelt, wurde inzwischen in Frage gestellt. Das Werk war bis ins 15. Jahrhundert ein enormer Erfolg, wie die zweihundert überlieferten Handschriften zu erkennen geben, als auch die zahlreichen Randbemerkungen der Kopisten zeigen, die auf seine Autorität zurückgreifen, um bestimmte Begriffe zu erklären. Genauso wie Osbern von Gloucester (erste Hälfte des 12. Jahrhunderts) hat Uguccione seine Derivationes nach einem Prinzip semantischer Analyse aufgebaut, das im 12. Jahrhundert sehr in Mode war. Die Einträge sind dabei nicht als isolierte Einheiten organisiert, sondern als Gruppen von Begriffen, von denen man annahm, dass sie von ein und derselben Wurzel stammten. So findet man nur 429 Einträge beim Buchstaben A. Die größten Einträge analysieren Dutzende von Begriffen auf formelle oder semantische Nähe (womit die moderne Sprachwissenschaft nicht immer einverstanden ist). Der Eintrag aveo (wünschen) umfasst so beispielsweise 54 Begriffe, die so verschieden sind wie avidus (geizig), avunculus (Onkel), avis (Vogel), augur (Augur), augustus. Alle werden aber als Derivationen von ein und derselben Wurzel dargestellt.
    In jedem dieser Einträge wird die Logik der Derivation, die sich hinter diesen lexikalischen Kaskaden verbirgt, sorgfältig dargestellt, weil sie das Herz der linguistischen Theorien ist, das dieser Organisation zugrunde liegt. Sie versuchen mithilfe grammatikalischer Spekulationen die gesamte Sprache auf einige wenige Schlüsselbegriffe herunter zu brechen. Die Folge hieraus ist eine lexikalische Strukturierung „in Sternform“, die es erlaubt, nicht nur über die Bedeutung eines Begriffs nachzudenken, sondern auch die Vorstellung zu verstehen, die die Kleriker, die diese Hilfsmittel zwischen 1200 und 1500 verwendet haben, von den Beziehungen zwischen den lexikalischen Einheiten hatten. Handelt es sich um Wissen der Kleriker für Kleriker, ohne Praxisbezug? Um sich vom Gegenteil zu überzeugen, genügt es an die erhellende Wirkung zu denken, die ein Blick ins Lexikon mit sich bringt, wenn es um die zahllosen etymologischen Spiele geht, die damals von den Klerikern im Bereich der Sprache der Autorität praktiziert wurden (Maria = mare amarum, etc.). Die hunderten lexikalischen Netze der Derivationes erweisen sich somit als besondere Werkzeuge, um die Vereinfachung einer zu hastigen lexikalischen Analyse zu überwinden, indem sie bestimmte „etymologische“ (im mittelalterlichen Sinn des Wortes… nämlich dem dieser Derivationen) Kombinationsraster wiederfinden, die einen großen Teil des Denkens und der Kunst zu Schreiben (Latein) des Spätmittelalters ausmachen.
    Man kann also die 2004 erschienene kritische Edition der Derivationes des Uguccione mit Gewinn heranziehen. Sie ist so konzipiert, dass sie das Hin und Her zwischen den einzelnstehenden Begriffen (sie sind in einem ersten Index-Band katalogisiert) und der Netzstruktur der Lexikoneinträge erleichtert. Eine regelmäßige Verwendung erlaubt es zugleich die Analyse der Schlüsselbegriffe der Ideologien des ausgehenden Mittelalters zu vertiefen, von denen einige zu Konzepten der Mediävistik wurden (ecclesia, dominium, potestas, etc.). Sie erlaubt es zudem, die subtilen Beziehungen zwischen den benachbarten Begriffen zu verstehen, die von den mittelalterlichen Klerikern zugleich miteinander verbunden wurden und dennoch differenziert sind (actor/auctor), zu ermessen, welcher Teil des klassischen, biblischen (besonders hebräischen Ursprungs) oder anderen Vokabulars in dieses gemeinsame lexikalische Erbe aufgenommen wurde und schließlich darüber nachzudenken, was nicht weniger wichtig ist, welche Begriffe nicht vorzufinden sind. Ihr Fehlen deutet nicht zwangsläufig daraufhin, dass ein bestimmtes Konzept oder Begriff aus der Praxis für die Kleriker des 12. bis 13. Jahrhunderts nicht von Bedeutung war (so wird man vergeblich den Begriff feudus-Lehen finden). Die Auswahl, die Uguccione getroffen hatte, hing weitgehend von der Bürde der traditionellen lateinischen Kultur ab, die vom Begriff der Autorität geprägt war. Sie lädt dazu ein, unseren Glauben an die Vollständigkeit von Wörterbüchern der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft zu relativieren.


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  • Bibliographie

    Benoît GREVIN, 1. Oktober 2012
    Latin |

    Über die Verwendung mittellateinischer Lexika)

    - UGUCCIONE DE PISE, Derivationes, Bd. I-II, Enzo Cecchini e di Guido Arbizzoni, Settimio Lanciotti, Giorgio Nonni, Maria Grazia Sassi, Alba Tontini (Hgg.), Florenz, 2004 (Edizione nazionale dei testi mediolatini, 11).
    - DU CANGE-FABRE, Glossarium mediae et infimae Latinitatis[...], Niort, 1883-1887 (Neuedition. Anastatique Graz, 1954, im Internet auf der Seite der École des Chartes (http://ducange.enc.sorbonne.fr).
    - L’étymologie, de l’antiquité à la Renaissance, Claude BURIDANT (Hg.)., Arras, Presses Universitaires du Septentrion, 1998 (Lexique, 14).
    - Les manuscrits des lexiques et glossaires de l’Antiquité tardive à la fin du Moyen Âge. Actes du Colloque international organisé par le «Ettore Majorana Centre for Scientific Culture» (Erice, 23-30 septembre 1994), Jacqueline HAMESSE (Hg.), Louvain-la-Neuve, 1996 (Textes et études du Moyen Âge, 4).
    - RIESSNER C., Die Magnae Derivationes des Uguccione da Pisa und ihre Bedeutung für die romanische Philologie, Rome, Edizioni di storia e letteratura, 1965.


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