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  • De Die Verwendung der Erinnerungen des Herzogs von Saint-Simon in der Mediävistik

    Benoît GREVIN, 6. März 2013

    Benoît GRÉVIN

    (Chargé de recherche - CNRS, Laboratoire de Médiévistique Occidentale de Paris)

    Übersetzerin: Anne Holtmann-Mares


    Welche Beziehung besteht zwischen den Mémoires des Louis de Rouvroy, Herzog von Saint-Simon (1675-1755), und der Mediävistik? Das zwischen 1691 und 1750 entstandene monumentale Werk berichtet von Ereignissen, die im Wesentlichen den französischen Hof, den Adel und den Staat zwischen 1691 und 1723 betreffen. Will man den Hof Ludwigs XIV. in seiner Spätzeit und jenen der Regentschaft, die in den Mémoires einer Freskomalerei gleich dargestellt werden, nicht als verspätetes Abbild des Mittelalters in der Neuzeit ansehen, so müsste die eingangs gestellte Frage als Anachronismus erscheinen. Saint-Simon ist und bleibt zunächst ein literarisches Monument, das gleichzeitig eine Quelle ersten Rangs für die Geschichte des modernen Frankreich um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert ist und, in einer stärker anthropologischen Hinsicht, eine seit den Arbeiten von Norbert Elias immer wieder verwendete Grundlage für die Analyse der höfischen Gesellschaften. Die Mémoires scheinen den Mittelalterhistoriker demnach nur am Rande und in vergleichender Perspektive zu interessieren. Dennoch: Wer sich in das Abenteuer der gut zwölfhundert Seiten langen kommentierten Pléiade-Ausgabe stürzt, in das Gestrüpp einer von Personenporträts zu Abhandlungen, von Genealogien zu Distinktionskämpfen reichenden Prosa des Memoirenschreibers, wird feststellen, dass es an Material für eine Betrachtung der mittelalterlichen Geschichte nicht mangelt.
    Saint-Simon selbst bezeugt in seiner Einleitung, dass er ein Faible für Geschichte habe und viele historische Werke lese. Wenn er jedoch gesteht, er habe etwas in diesem Genre unternehmen wollen (sic!, Bd. I, S. 20), so verdeutlicht er sofort, dass er sich in diesem Fall für die neuesten Zeiten interessiert hätte, nämlich das 16. und das 17. Jahrhundert. Doch auch das Mittelalter, das schon in verschiedenen Vorstudien präsent war, kommt in den Mémoires überall zum Vorschein. Es erscheint regelmäßig bei der Erörterung der adeligen Stammbäume, deren Qualität und Alter meistens kurz, manchmal in regelrechten Abhandlungen diskutiert werden (siehe z. B. die Größe des Hauses Rohan, Bd. I, S. 498-501, die Bedeutung des Hauses Albret, Bd. I, S. 738-739). Erkennbar wird das Mittelalter auch in den Diskussionen über gesellschaftliche Stellungen und Ansprüche, untersucht anhand schriftlicher (vgl. die wiederkehrenden Ausführungen über den Ursprung der Pairs, insbesondere in Bd. V, S. 4ff.) und bildlicher (z. B. die Überreste des Wappens des Hauses Lothringen auf den Stadttoren von Bar-le-Duc, das gewisse Ansprüche dieses Hauses zunichte macht) Zeugnisse. Es findet seinen Kulminationspunkt in regelrechten Miniaturabhandlungen, in denen die französischen (sowie die aus Anlass der spanischen Erbfolge und der Reise von 1721-22 vorgestellten spanischen) Institutionen und ihre Ursprünge (Bd. IV, S. 4-39) diskutiert werden und in denen unter verschiedenen Gesichtspunkten wiederholt die Bildung und Verfassung der politischen Körperschaft des Königreichs untersucht wird (Entstehung und Entwicklung des Parlement, Bd. V, S. 12-50, der Generalstände, der Regentschaft und einmal mehr der Pairs…). Selbst gewisse „touristische“ Sehenswürdigkeiten (der in Toledo bestaunbare mozarabische Ritus, Bd. VIII, S. 375-381, und die verspotteten „romanischen“ Reliquien von Roncevaux 1722, Bd. VIII, S. 421-422) oder bestimmte Praktiken zeitgenössischer Historiker (die Erfindung bzw. Fälschung des Kartulars von Brioude, Bd. II, S. 847-851, der Kommentar zur Histoire de France des Paters Gabriel Daniel, Bd. IV, S. 656-659) wurden zum Gegenstand von Betrachtungen, die das Verhältnis des Memoirenschreibers zu der Zeit vor dem 16. Jahrhundert zum Thema machen. Es gibt also ein „Mittelalter“ Saint-Simons, das wie eine verborgene Ader in den Innereien seiner Chronik verläuft und im Ganzen mehrere Hundert Seiten umfasst.

    Welchen Nutzen kann der Mediävist aus dieser riesigen Materialmenge ziehen? Man ist versucht, den „mittelalterlichen Saint-Simon“ erneut zu lesen, um die blinden Stellen eines frühen 18. Jahrhunderts abzumessen, das so „reaktionär“ scheint, dass man es gerne als ein „verspätetes“ Zeitalter Ludwigs XIV. ansehen würde. Lieferte nicht Voltaire die Grundannahmen für eine innovative Geschichtsreflexion über die Zeitspanne, die man später als Mittelalter bezeichnet wird, und zwar in seinem Essai sur les Mœurs, der größtenteils in jenen Jahren verfasst wurde, in denen Saint-Simon seine Mémoires fertig stellte? Demnach müsste man in Saint-Simons Darstellung der Entstehung des Parlement oder des Aufkommens der Pairs den Reflex einer rückwärtsgewandten Vorstellung sehen, die, weit entfernt von den philologischen und lexikalischen Forschungen eines Ducange (1610-1688), Zeugnis von einer ideologisierten und bewahrenden Lesart der Geschichte Frankreichs (und Europas), bar jeder Wissenschaftlichkeit, ablegt, eine Art Kontrast zu den Bemühungen seiner Vorgänger und Zeitgenossen um eine rationelle Untersuchungsmethode für die Übergangszeit zwischen der Antike und der Neuzeit (400-1400), welche den Begriff der mittelalterlichen Geschichte vorwegnimmt.
    Diese Interpretation wird der Komplexität der historischen Betrachtungsweise Saint-Simons nicht gerecht, einer Komplexität, die in seiner Belesenheit ebenso gründet wie in der Tiefe einiger seine historischen Gedankengänge und die sich in seinen Urteilen über die Mängel bestimmter zeitgenössischer Arbeiten offenbart, die er, wie wir heute sagen würden, aufgrund ihres zu großen ereignisgeschichtlichen Charakters kritisiert (z. B. die Histoire de France des Paters Gabriel Daniel). Der unvergleichliche Memoirenschreiber Saint-Simon besaß durchaus den Instinkt eines Historikers, und seine Bemerkungen über das „Mittelalter“ muss man im Gegenteil als das werten, was sie sind: ein außergewöhnliches Zeugnis für eine Betrachtungsweise der „mittelalterlichen“ Geschichte, die ein Schriftsteller noch vor der Entstehung des Begriffs „Mittelalter“ haben konnte, ein Schriftsteller, der den Habitus eines konservativen, von der renovatio des Staates besessenen Hochadeligen mit dem eines begeisterten Gelehrten vereinte.
    Die Mémoires bieten demnach eine bemerkenswerte Gelegenheit, um zunehmende Entwicklung einer historischen Perspektive auf die Zeit vom 5. bis zum 15. Jahrhundert zu untersuchen, welche die Studien über das „Mittelalter“ von Ducange, Mabillon, Montesquieu, Voltaire u.a. ergänzt. Dank der gesellschaftlichen Stellung und der Bildung ihres Autors ermöglichen es die Mémoires, das Zusammenspiel zwischen dem Festhalten an einer Vorstellung von den vergangenen Jahrhunderten, die symbolische und institutionelle Kontinuitäten sowie Abstammungen betont, und der Ausbreitung eines autonomen Raums für die „gotische“ Gelehrsamkeit, deren Auswirkungen schon zwischen 1685 und 1750 spürbar waren, zu beobachten. So gesehen enthalten die Mémoires viele Stellen, die Mediävisten für künftige Untersuchungen über die „Vorgeschichte der mittelalterlichen Geschichte“ auswerten können: 1) „Irrtümer“ oder offensichtliche Verzerrungen, die erneut zu betrachten wären, um das Gewicht von Mythen und traditioneller Geschichtsschreibung in der Sicht auf die mittelalterliche Vergangenheit Frankreichs zur Zeit der letzten Bourbonen zu messen (siehe beispielsweise die instruktive Darstellung des Mythos der zwei Stämme (Franken/Gallier) oder jene über die Entstehung des Juristenstandes anlässlich der Ausführungen über das Parlement, Bd. V, S. 3ff.); 2) Erfassung der Verwendungsformen mittelalterlicher Quellen als Instrument für politische Kämpfe; 3) Gradmesser für die Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung mittelalterlicher Konzepte durch die positivistische und postpositivistische Mediävistik und einen gelehrten Hochadeligen aus der Zeit um 1700. Die letztgenannte Option ergibt sich aus den enthusiastischen Kommentaren, die Saint-Simon den Präambeln der Urkunden bzw. Diplome des 14. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der Anwendung der metaphorischen Technik des dictamen durch die Pair widmet. Eine naive Interpretation könnte zu der Annahme führen, dass diese Zeilen (Bd. V, S. 17) von einer unmittelbaren Verwendung dieser Rhetorik zeugen, die im 19. Jahrhundert unverständlich würde. Es handelt sich jedoch um einen komplexeren Prozess, da die saint-simonistische Interpretation sowohl eine tatsächliche Form von „kontinuierlicher“ Empathie als auch eine Vorbereitung voraussetzt, die von seiner Bildung und von dem abhängt, was er gelesen hat.
    Historische Semantik, Institutionengeschichte, Geschichte der Wahrnehmungen… Jacques Le Goffs Bonmot über das lange, von Tiberius bis zu Napoleon reichende Mittelalter hat einen heuristischen Wert, der sich auf das Feld der historiographischen Betrachtung erstrecken kann. Eine erneute und einfallsreiche Lektüre dieser Ikone der neuzeitlichen Geschichte, wie Saint-Simon es ist, könnte zur Belebung der Forschung über die Vorgeschichte der mittelalterlichen Geschichte beitragen.


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  • Bibliographie

    Benoît GREVIN, 6. März 2013

    Die Verwendung der Erinnerungen des Herzogs von Saint-Simon

    - SAINT-SIMON, Mémoires. Additions au Journal de Dangeau, 1691-1723, 8 Bde., hg. von Yves Coirault, Paris 1983-1988 (Nrf, Bibliothèque de la Pléiade).
    - COIRAULT, Yves, Les manuscrits du duc de Saint-Simon. Bilan d’une enquête aux Archives diplomatiques, Paris 1970.
    - COIRAULT, Yves, Grimoires de Saint-Simon. Nouveaux inédits, Paris 1975.
    - COIRAULT, Yves, Saint Simon et l’imaginaire du féodalisme, dossier „L’image du Moyen Âge dans la littérature française”. Actes du Colloque de Poitiers, mai 1981, La licorne 6/II (1982), S. 405-427.
    - ELIAS, Norbert, La société de cour, Paris 1974 (frz. Übersetzung von Die höfische Gesellschaft).


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