(Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Paris 7)
Zwischen der Dynamik und der großen Anerkennung der gender history in den USA und der Zurückhaltung der Arbeiten in den meisten europäischen Ländern besteht ein beträchtlicher Unterschied. Gender erweist sich allerdings als ein wunderbares Mittel, um andere Fragen an die Dokumente zu stellen, mit denen wir arbeiten (und sie zu dekonstruieren). Zudem verpflichtet es dazu, dem „gesellschaftlichen Geschlecht“ der Handelnden Rechnung zu tragen, zu zeigen, wie die Beziehungen zwischen Männern und Frauen funktionieren, über die Formen der männlichen Beherrschung nachzudenken und sich viel allgemeiner Gedanken über die Kategorien in der Gesellschaft zu machen.
Die gender-Geschichte ist eine Bewegung, die thematisch aber auch historisch eng mit der Geschichte der Frauen verbunden ist. Da letztere dadurch in der Geschichtswissenschaft „vollwertige“ handelnde Personen geworden sind, wird es möglich, die Beziehungen zu untersuchen, die sie mit den Männern unterhielten und aufzudecken, wie man jedem Menschen einen Status, eine Rolle und eine Identität zuwies. Das Mittelalter ist von einer starken Unterscheidung und Hierarchisierung der Geschlechter geprägt, was durch die Bibel legitimiert war. Die Frau muss dem Mann untergeordnet sein, da Eva in der Schöpfung eine weniger wichtige Rolle inne hatte: Der Mann wurde vor der Frau erschaffen; letztere entstand aus ihm heraus und wurde nicht nach dem Bild Gottes geformt. Adam gab der Frau nach dem Sündenfall, für den diese verantwortlich gemacht wurde, schließlich den Namen Eva.
Wenn man den Ansatz der gender-history heranzieht, muss man gesellschaftliche, wirtschaftliche, kulturelle, politische u.ä. Phänomene, die unter dem Anschein der Neutralität vermännlicht wurden, noch einmal in Hinblick auf das Geschlecht betrachten, und somit müsste die mittelalterliche Geschichte neu und anders geschrieben werden: Das hieße, eine Annäherung an die großen Ereignisse und Konzepte (die „Renaissance des 12. Jahrhunderts“, die Entstehung der Universitäten, die Schreibpraxis, die Theorien der Lebensalter, der Hundertjährige Krieg etc.), die beide Blickwinkel vereint.
Gender-Geschichte schreiben, heißt zugleich – in der Sichtweise, die vom Postmodernismus Joan Scotts und der amerikanischen Kulturgeschichte angenommen wurde –, dass man nach dem Prinzip der Trennung zwischen Männern und Frauen und seiner Bedeutung in den Diskursen fragt. Indem er die Arbeiten Michel Foucaults oder Jacques Derridas wegen ihrer Methode der Diskursdekonstruktion (die French Theory) ganz mit einbezieht, versucht dieser von den amerikanischen Forschern überdachte Ansatz zu verstehen, wie Gesellschaften Männer und Frauen gegeneinander abgrenzen, wie das kulturelle Wissen um die Unterscheidung der Geschlechter entstanden ist und welche Wirkung dies hatte.
Einer der jüngsten und besonders vielversprechenden Beiträge über gender stellt die Geschichte des Männlichen und der Männlichkeit (men’s studies) dar, d.h. das Herausarbeiten einer Geschichte der Männer, als geschlechtlich differenzierte Wesen. In der Geschichte und der Historiographie sind die Männer stets die Norm gewesen, von der aus die anderen Kategorien definiert wurden. Paradoxerweise machte sie diese Omnipräsenz unsichtbar. Im mittelalterlichen Kontext einer Überbewertung der Keuschheit kommt man nicht umhin, über das nachzudenken, was Ann McNamara die „Herrenfrage“ nannte, oder im Zusammenhang mit der sogenannten gregorianischen Kirchenreform – als der zölibatär lebende Mann den Machtkampf mit dem verheirateten Mann gewann – als männliche Identitätskrise galt: „Kann man ein Mann sein, ohne die Attribute zu entfalten, die biologisch am offensichtlichsten für die Männlichkeit stehen?“
Eine fünfte Verwendung von gender besteht darin, das Geschlecht anderen Kategorien der Analyse gegenüberzustellen. In der Tat ist es wichtig, darauf aufzupassen, die Geschichte des Geschlechts nicht in eine umfassende Theorie einzuschließen, die alles erklären will, sondern darauf zu achten, dass auch die Relevanz anderer Typen soziokultureller Beziehungen miteinbezogen werden. Das Geschlecht ist nur ein Unterscheidungsmerkmal von vielen: Alter, Generation, Ordnung, gesellschaftliche Bedingungen, ländliche oder städtische Zugehörigkeit, Stellung in der Verwandtschaft, etc. Man sollte das Zusammenspiel des Geschlechts mit diesen anderen Formen der Unterscheidung analysieren und untersuchen, worin die eine die anderen dominiert. Damit sollte man der Falle entgehen, jedes mal zu bestätigen, dass der Geschlechterbegriff entscheidend für die Analyse sozialer Beziehungen sei.
Diese Gegenüberstellung erlaubt es, Männlichkeit und Weiblichkeit jeweils in den Plural zu setzen, d.h. zu zeigen, dass die Gruppe der Männer und die Gruppe der Frauen sehr heterogen sind. Man weiß, wie wichtig für die Frauen des Mittelalters die Kriterien des Alters, die Stellung im Leben und in der Verwandtschaft waren: sie sind abwechselnd „Tochter von“, „Gattin von“, „Witwe von“. Es handelt sich um Identitäten, die einen anderen Status sowie ganz unterschiedliche soziale Rollen und Machtmöglichkeiten implizieren. In derselben Weise variieren die gesellschaftlichen Beziehungen unter den Geschlechtern sehr stark, abhängig vom sozialen Milieu, das in jedem Teil der Gesellschaft im Gegensatz zu einer anderen Kategorie gesehen wird: Die Ritter verstanden die Männlichkeit als das Gegenteil der Weiblichkeit und als Beherrschung der anderen (Männer und Frauen) mittels Gewalt; Im universitären Bereich steht der Mann dem Tier gegenüber und dessen Beherrschung wird mit dem Verstand erklärt; In der Welt der Lehre ist Männlichkeit vor allem das Gegenteil von Jugend (Ruth M. Karras).
Ein sechster Bereich, in dem es um die Verwendung des Geschlechts geht, beschäftigt sich schließlich mit den Diskrepanzen zwischen dem anatomischen Geschlecht und dem gender. Eine starke und fast natürliche Tendenz in der Sozialwissenschaft (nicht nur in Geschichte) besteht darin, ein Geschlecht einem gender zuzuordnen. Nun weiß man aber, dass es in allen historischen Zusammenhängen Diskrepanzen zwischen beiden gibt: die neuesten Studien über Travestie, Homosexualität, Androgynie (die queer studies in den USA), betonen, wie weit der gender-Begriff ist und zeigen, wie künstlich es ist, die Heterosexualität als Norm zu definieren. Letztere war oft eine bequeme Konstruktion, um die anderen Formen der Sexualität a contrario als pervers und abnormal zu definieren. Es gibt keinen Gegensatz zwischen gender und Geschlecht, sondern ein beständiges Zusammenspiel von gender und Sexualität. Im Mittelalter besteht ein großer Widerspruch zwischen der unwiderruflichen Verurteilung von Homophilie und Homoerotik und der Überbewertung einer zutiefst homosozialen Welt.
Über den Umgang mit Gender
LAUWERS Michel, «L’institution et le genre. À propos de l’accès des femmes au sacré dans l’Occident médiéval», Clio, Histoire, Femmes et Sociétés, 2, 1995, S. 279-317.
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Genders and Others Identities in the Middle Ages. The Interplay of Differences, S. Farmer und C. Braun Pasternack (Hgg.), University of Minnesota Press, Minneapolis, 2002.
KARRAS Ruth Mazo, From Boys to Men. Formations of Masculinity in late Medieval Europe, Philadelphia, University of Pennsylvania Press, 2003.
DALARUN Jacques, BOHLER Danielle und KLAPISCH-ZUBER Christiane, «La différence des sexes», in: Les tendances actuelles de l’histoire du Moyen Âge en France et en Allemagne, J.-Cl. Schmitt und O.G. Oexle (Hgg.), Paris, Presses Universitaires de la Sorbonne, 2002, S. 561-582.
BÜHRER-THIERRY Geneviève, LETT Didier und MOULINIER Laurence, «Histoire des femmes et histoire du genre dans l’occident médiéval», Historiens et Géographes, 392, 2005, S. 135-146.