(Chargé de recherche CNRS - CESCM)
In Stein, auf Holz, Metall oder auf Glas geritzte Texte sind im Mittelalter sehr häufig. Wenn die griechische und römische Antike mit Recht die „Zivilisation der Epigraphik“ ist, braucht der mittelalterliche Westen keinen Vergleich zu scheuen. Die Inschriften stellen für manche Orte, Zeitalter, Ereignisse und Personen die einzigen Schriftdokumente dar, die dem Historiker zur Verfügung stehen. Gleichzeitig Text und Objekt, Idee und Materie, so ist die Inschrift komplex in ihrer Definition, die sich in ihrer Form und in ihrem Inhalt über die Jahre hinweg und in Anhängigkeit zum Gebrauch verändert hat.
Die Inschriften stellen eine besondere Form der mittelalterlichen Schriftpraxis dar; Sie verfügen über ihre eigenen Arten der Ausarbeitung und des Erstellens des Textes von seiner Konzipierung bis hin zu seiner materiellen Realisierung. Zudem besitzen sie charakteristische Funktionsweisen bezüglich Mitteilung und Weitergabe der Information. Diese können von Mediävisten nicht übergangen werden, weniger noch als dass sie nicht analysiert werden können, ohne die Besonderheiten der epigraphischen Praxis inmitten der Vielfalt der mittelalterlichen Schreibkulturen in Betracht zu ziehen.
Nun bleibt die Verwendung einer Inschrift im historischen Diskurs die meiste Zeit anekdotisch: So wird sie nie als unerlässlich dargestellt und reduziert sich auf bloße Illustration. Ihr Gebrauch ist daher sehr außergewöhnlich. Folglich zieht die Inschrift als historischer Beleg ihre wissenschaftliche Relevanz mehr aus ihrer Neuheit, ihrer Besonderheit, aus dem Überraschungseffekt denn aus ihrer historischen Beständigkeit. In der Kunstgeschichte werden Epigraphien am häufigsten genannt. Man sucht in den Inschriften den endgültigen Nachweis für Datierung und Zuschreibung. Der Historiker hingegen findet im Epitaph oder Grabmal lediglich die Möglichkeit, seine Ausführungen optisch zu illustrieren. In beiden Fällen stellen die Inschriften selten ein eigenes Forschungsobjekt dar, um uns etwas über die Schriftpraxis im Mittelalter zu lehren, was offensichtlich eine starke Herabsetzung der geschichtlichen Relevanz des Objekts darstellt, das ohne Zweifel ab der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts das geschriebene Element darstellt, mit dem Männer und Frauen im Mittelalter aufgrund seiner Allgegenwärtigkeit, insbesondere im städtischen Bereich, am besten vertraut waren.
Ausgehend von dieser Aussage und von den großen Bewegungen in der heutigen Mediävistik, haben neue Studien die Relevanz der epigraphischen Quellen für das Studium der Sakralität im Mittelalter und der Ausarbeitung eines Bildes oder mehr noch einer Praxis der Bestattung, aufgezeigt. Ebenfalls haben sie die Aufmerksamkeit auf die Schwierigkeiten gelenkt, die mit der Rekonstruktion des Textes und des Kontextes dieser Inschriften einhergehen.
In der Tat ist der Gebrauch epigraphischer Quellen bei der Konstruktion eines historischen Diskurses kein einfaches Unterfangen. Zuerst, weil die Definition dessen, was man unter dem Terminus „Inschrift“ fasst, sehr verschieden sein kann. Heute bevorzugt man die funktionale Definition, bei der die Inschrift der Weitergabe einer Information für einen möglichst langen Zeitraum und einer möglichst großen Anzahl Menschen dienen soll (R. Favreau), eher als die formale Definition der Historiker des Altertums, bei der der eingeprägte Text auf hartem und beständigen Material stehen soll. Trotzdem bleiben die Umrisse der Quellengattung doch unscharf und die Inschriften, die sie ausmachen, sehr vielfältig. Zudem, weil man immer noch Schwierigkeiten bei der Identifizierung des Schreibers einer Inschrift hat, sei es zu einer Einzelperson, einem Kollektiv oder am wahrscheinlichsten mehreren Autoren und Akteuren, die arbeitsteilig je nach intellektuellen oder handwerklichen Fähigkeiten bei der Erstellung eines komplexen Objekts beteiligt waren. Letztlich aber, weil die Rezeptionswirklichkeit eines epigraphischen Textes hypothetisch bleibt. Zu den zahlreichen unlesbaren, ja sogar unsichtbaren Inschriften kommen unterschiedliche und nicht genau zu erfassende Rezeptionsbedingungen und die Unmöglichkeit, eine Archäologie der möglichen Rezeption zu betreiben. Die Inschrift bleibt immer noch relativ ungreifbar, auch wenn man heute nicht mehr daran zweifeln kann, dass sie für die Menschen im Mittelalter als Schriftphänomen von großer Bedeutung war!
Wenn sich der Mediävist diese drei Hauptschwierigkeiten, die das epigraphische Phänomen mit sich bringt, vergegenwärtigt hat, so findet er sich in jedem Fall einem überkontextualisierten Schreibobjekt gegenüber, nicht nur, weil es schon an sich graviert oder für einen bestimmten Ort gedacht ist, entweder vor oder in einem Gebäude, als Grabmal oder als Wandmalerei, sondern auch weil die Inschrift, selbst wenn sie für die Ewigkeit konzipiert wurde, immer von genauen Kommunikationsumständen abhängig bleibt. In einem hic et nunc verankert, so sorgen die Rezeptionsbedingungen der Inschrift immer für einmalige Lesarten (V. Debiais). Das sind die Augenblicke, welche die Analyse der Inschriften wiederherzustellen versucht, indem sie sich auf die epigraphische Quelle in einer wandelbaren, lebhaften und anwachsenden Umgebung bezieht. Im Rahmen der Texteditionen sind die einen von den anderen isoliert, jedoch sollten die Inschriften in Wirklichkeit als Netz entschlüsselt werden, erst die einen, dann die anderen, oder in Bezug innerhalb des Gebäude, in dem sie geritzt wurden. Die nationalen Publikationsprojekte neigen dazu, ein museographisches Bild der Inschriften zu vermitteln, da sie sie als feststehende Denkmäler zeigen, was nicht ihrer dynamischen Rezeptions-, Darstellungs- und Gebrauchspraxis entspricht.
Die Zusammensetzung des Korpus zur Untersuchung mittelalterlicher Inschriften variiert seit ungefähr einem Jahrzehnt zwischen den Perioden, in denen viel produziert wurde, sowie den mehr oder weniger langen Zwischenphasen, je nach Verfügbarkeit von Geld und Fachkräften an den Universitäten, und die durch unproduktive Debatten der Herausgeber über die Erweiterung des Korpus oder die Etablierung von Editionsnormen gekennzeichnet sind. Der Wissenschaftler hat gleichwohl ausladende und ernstzunehmende Sammlungen an Dokumenten zur Verfügung (beispielsweise mehr als 4.000 veröffentlichte Inschriften in Frankreich, 25.000 in Deutschland und 1.500 in Italien), um über epigraphische Quelle arbeiten zu können, sei es in Sprach-, Form- oder Ideengeschichte. Die Abwesenheit gemeinsamer europäischer Publikationsnormen lässt sich durch die Beziehung der Epigraphik mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen (insbesondere der Paläographie und der Diplomatik) erklären, von denen sie die meisten Prinzipien entlehnt und manchmal mit weniger Erfolg auch das Vokabular. Dennoch sollte sich die Epigraphik in den kommenden Jahren mit den anderen „Hilfswissenschaften“ der Mediävistik zusammenschließen, um Synergieeffekte zu erzeugen. So wird ein besseres Verständnis dieser schriftlichen Ausstellungsphänomene (A. Petrucci), des rechtlichen oder potentiellen Werts der Inschriften oder darüber hinausgehend ihrer Rolle bei der Kennzeichnung öffentlicher Plätze ermöglicht.
Über den Gebrauch der Inschriften
DEBIAIS Vincent, Messages de pierre. La lecture des inscriptions dans la communication médiévale, Turnhout, Brepols, 2009.
FAVREAU Robert, Épigraphie médiévale, Turnhout, Brepols, 1997.
PETRUCCI Armando, «Aspetti simbolici delle testimonianze scritte», dans Simboli e simbologia nell’alto medioevo. II, Spolète, Centro italiano di studi sull’ alto medioevo, 1976, p. 813-844.
PETRUCCI Armando, Jeux de lettres. Formes et usages de l’inscription en Italie (XIe-XXe siècle), Paris, Éditions de l’EHESS, 1993 (1. italienische Ausgabe: 1980).
TREFFORT Cécile, Paroles inscrites. À la découverte des sources épigraphiques latines du Moyen Âge, Rosny-sous-Bois, Bréal, 2008.